Aktuelles
100 Jahre FC St.Pauli
Von St. Pauli nach Las Vegas
1955: Es ging für uns um die Meisterschaft der Hamburger Fußballjugend in der Liga zweite Knaben. Das Endspiel fand zwischen den Mannschaften von Victoria und FC St. Pauli statt.
Zu diesem Anlass hatte mir meine Mutter einen weißen Pullover mit einem breiten Bruststreifen in der Vereinsfarbe Braun gestrickt. Leider sollte er sich nicht als Glücksbringer für meine Torwart-Karriere erweisen, wer weiß, vielleicht achtete ich zu sehr darauf, mich nicht schmutzig zu machen, jedenfalls haben wir 3:2 verloren. Dafür musste ich mir nicht nur zu Hause reichlich was anhören, denn meine große Schwester, Jutta, war mit Hans Wehrmann zusammen und der war 'ne richtige Kanone in der ersten Herren-Mannschaft des FC St. Pauli.
Wenn am Wochenende auf dem Heiligengeistfeld, direkt neben dem Sani-Freibad, die Spiele der Großen stattfanden, war ich immer sein Gast. Es war für mich immer ein besonderer Moment, wenn die Mannschaften mit klickernden Stollen und von bewundernden Blicken begleitet, aus dem Clubhaus kamen, um über die mit Backsteinen gepflasterte Bundesstraße auf die andere Seite zum Millerntorplatz zu gelangen. Hans hatte dabei seine Hand auf meine Schulter gelegt und platzierte mich, nach kurzem Blickwechsel mit den Ordnern, direkt am Spielfeldrand. Stolz wie Bolle verfolgte ich von meinen privilegierten Standort jeden Spielzug, darauf wartend, dass Hans ans Leder kam. Wenn es dann soweit war, er auf seiner Rechtsaußenposition angespielt wurde und zum Sturmlauf ansetzte, hatte sein Verfolger wenig Chancen, ihm den Ball abzunehmen. Mit dem für ihn so typischen Laufstil hielt er sich mit weit rudernden Armbewegungen den Gegner vom Hals. Und wenn dann seine Flanke nach innen kam, hielten alle die Luft an.
Hans war in den fünfziger Jahren Vertragsspieler. In Zeiten, als Bundesliga und Berufsfußball sich noch in weiter Ferne befanden, betrug sein Spielerhonorar 330 DM pro Monat. Fußballer war ein Nebenberuf, und für den Erwerb eines Spielervertrags war es Vorbedingung, einen Hauptberuf auszuüben. Auf dem Spielfeld stand Hafenarbeiter neben Speditionskaufmann und KFZ-Schlosser neben Klempner, und im Kasten war der wunderbare Harry Wunsdorf – mein Torwart-Idol! Für alle war die Freude an der Sache mehr wert als die Piepen. Was für die Vereinsfunktionäre Ehrenamt, war für die Spieler „Hobby auf hohem Niveau“. Und als Torprämie wurde bestenfalls eine Lokalrunde fällig.
Von diesem Geist ist dem Verein bis in die heutigen Tage etwas erhalten geblieben, und auch wenn zwischendurch die Nähe zum Freudenhaus-Fußball etwas überhand nahm, so gilt doch immer noch:
„Wir sind hart im nehmen
und wir schenken fair ein
hier stimmt die Energie
und auch die Chemie“.
„Wir waren schon unten und schon oben,
wir waren schon überall,
wir kämpfen um den Sieg
und verkaufen nicht den Ball.“*
* Zitat aus Song für den FC St.Pauli
Mein Schwager Hans ist in den sechziger Jahren mit seiner Familie in die USA ausgewandert. Er ist jetzt 82 Jahre alt und verbringt seinen letzten Lebensabschnitt im Spielerparadies Las Vegas. Ich habe grad mit ihm telefoniert, seinem alten Verein fühlt er sich noch immer verbunden und freut sich darüber, dass die moderne Technik es heute möglich macht, weltweit alle Spiele im Internet zu verfolgen. Da fehlt nur noch eins zum perfekten Glück, nämlich dass der allmächtige Fußball-Gott dem FC St. Pauli zum „Hundertjährigen“ mit der ersten Liga gratuliert.
Euer Achim Reichel
Texte aus dem Taschenbuch "St. Pauli Unser"erschienen beim Rowohlt Verlag.